ESSENZIELL FÜR DEN WANDEL
Dr. Olaf Kranz über die Rolle der Kunst- und Kreativwirtschaft inmitten der gesellschaftlichen Transformation.
KOMPETENZTEAM KULTUR- UND KREATIVWIRTSCHAFT DER LH MÜNCHEN
OLIVER HERWIG: Wo steht die Münchner Kultur- und Kreativwirtschaft Anfang 2024?
DR. OLAF KRANZ: Die wirtschaftlichen Bedingungen in einer Rezession stehen nicht zum Besten. Aber es gibt natürlich, wie immer und überall, Gewinner und Verlierer. Den großen, etablierten Unternehmen geht es nach wie vor gut. Schwere Bedingungen haben insbesondere die Kleinen, die Jungen und Newcomer. Prinzipiell hat aber in der Kultur- und Kreativwirtschaft jede neue ästhetische Handschrift zu jeder Zeit eine Chance auf Erfolg, weil sich unsere Gesellschaft stark nach der ästhetischen Überraschung sehnt. Das ist gewissermaßen die Geschäftsgrundlage unserer Branche. In einer Rezession ist das nicht anders. Aber hier schlägt schon so was wie die Maslowsche Bedürfnispyramide zu: An Kulturgütern wird in Krisenzeiten zuerst gespart.
OH: Also Kaufzurückhaltung gerade im Bereich Kultur und Kreativwirtschaft?
OK: Andererseits erlebe ich, dass sich die Kinos erholt haben und die Theater zu erholen scheinen. Und dass die Leute endlich wieder Gemeinschaftskulturerlebnisse in hoher Qualität suchen. Streaming reicht einfach nicht. Das gibt mir Hoffnung, dass sich unsere Branche auch aus dieser Krise befreit.
OH: Und wie wirkt sich die Digitalisierung aus in einem Bereich, der bislang glaubte, vor ihren Auswirkungen sicher zu sein?
OK: Auf einmal steht die große Frage im Raum: Was ist Kreativität? Wer ist Autor:in, und was heißt es, wenn der Generator auf Prompt kreative Werke erschafft, die sonst nur Menschen zugeschrieben wurden? Wir stehen mitten in einem massiven Umbruch.
Die Frage ist, wie sich die Kultur- und Kreativwirtschaft und mit ihr und in ihr die einzelnen Unternehmen positionieren, Chancen ergreifen und Nischen nutzen.
OH: Eigentlich eine großartige Zeit für Künstler:innen und Kulturschaffende, den Umbruch zu thematisieren.
OK: Ja, absolut. Das ist natürlich eine tolle Zeit, aber mit Herausforderungen. Wir haben als Branche eine unglaublich wichtige Funktion für die Innovation der Innovationssysteme. Meine Hoffnung ist, dass wir nun mit einer größeren Kreativität an diese gesellschaftlichen Herausforderungen herangehen und mit neuen Methoden versuchen, Lösungen zu finden, die bisher nicht gefunden worden sind.
OH: Sie leiten seit August 2022 das Kompetenzteam Kultur und Kreativwirtschaft der Landeshauptstadt München. Was hat sich seither getan?
OK: Die Zeit rennt. Abgesehen von neuen inhaltlichen Impulsen, die ich setze, ist das Team von 6 auf 14 Personen gewachsen. Wir sind umgezogen, haben neue Räume gestaltet. Und sind viele neue Projekte eingegangen. Zudem sieht die Politik in zunehmendem Maße, dass die Kultur- und Kreativwirtschaft eine strategische Rolle für die Bewältigung der anstehenden gesellschaftlichen Herausforderungen hat, nämlich bei der digitalen und grünen Transformation, die alle mitnimmt. Wir wollen unsere Branche auf Ebene der Stadtgesellschaft unterstützen, diese Rolle auszufüllen.
OH: Die Kulturschaffenden befördern den Wandel?
OK: Die von der Europäischen Kommission benannte strategische Funktion der Branche liegt darin, dass mit und in ihr viele Neuentwicklungen entstanden sind: zum Beispiel die Form, wie wir heute arbeiten in Co-Working-Offices oder in offenen Arbeitsumwelten – all das entstand in kreativen Firmen. Die Art, wie wir heute innovieren, ist in künstlerischen und Designpraktiken erfunden worden und greift jetzt aus. Begriffe wie „Design Thinking“ tragen das in andere Bereiche, um dort eine größere Kreativität zu ermöglichen und agiler zu entwickeln.
OH: Kern der Wertschöpfung in dieser Branche ist …
OK: ... nicht die technische, sondern die ästhetische Innovation, die Menschen erstaunt, irritiert und zum Nachdenken bringt, die überrascht, unterhält, berührt und in andere Zustände versetzt. Diese Art der Innovation beruht immer auf unterschiedlichen Weisen des Umgangs mit einem bestimmten Ausdrucksmedium. Games Designer:innen drücken sich im digitalen Medium aus, wo sie ästhetische Innovationen einführen in Design und Storytelling. Dichterinnen und Dichter drücken sich im Medium der Sprache aus. Und Designer:innen in den unterschiedlichen Materialqualitäten ihrer jeweiligen Ausdrucksmedien. Immer versuchen Menschen, über ästhetische Innovationen die Welt zu irritieren und dabei auch ein akzeptables Auskommen zu erwirtschaften. Zahlreiche Forschungen zeigen, dass wir diese Design-Mentalitäten stärker in Führungspositionen bringen sollten, weil sie Eigenschaften mit sich bringen, die wir in der neuen Unternehmensumwelt brauchen.
NICHT DIE TECHNISCHE, SONDERN DIE ÄSTHETISCHE INNOVATION ERSTAUNT DIE MENSCHEN UND BRINGT SIE ZUM NACHDENKEN
OH: Was genau wäre das?
OK: Wir müssen stärker fähig sein, mit Unsicherheit umzugehen, Ambivalenzen und Ambiguität zu ertragen und Konflikte auszuhalten. Das sind Eigenschaften, die wir lieben Farbe und Papier in der künstlerisch-kreativen Auseinandersetzung mit ästhetischen Medien gewonnen wurden und die jetzt dafür prädestiniert sind, sich in den neuen Umwelten zu bewähren.
OH: Sie sprachen von der Vernetzung unterschiedlicher Felder. Das geschieht ja auch, indem Sie Raum schaffen.
OK: Die Kultur- und Kreativschaffenden bei der Suche nach langfristig leistbaren Arbeits- und Präsentationsräumen sowie bei der Suche nach kurzfristigen Experimentierräumen zu unterstützen, war für mein Team von Anfang an eine wichtige Aufgabe, weil München eine unglaublich teure Stadt ist, mit knappen Flächen und hoher Nutzungskonkurrenz. Es gibt einen riesigen Bedarf in zentralen Lagen. Die Leute wollen in urbanen, kreativitätsförderlichen, inspirierenden Umgebungen arbeiten. Aber gerade dort sind die Mieten so hoch, dass sie es sich nicht mehr leisten können. Hier versuchen wir, deren Sichtbarkeit zu erhöhen sowie Verständnis für deren Arbeitsweisen und Bedeutung zu schaffen, augenscheinlich wird dies in unserem speziell für die Kultur- und Kreativwirtschaft entwickelten Inkubator: dem Ruffinihaus Creative Hub im Herzen der Stadt.
OH: Daher engagieren Sie sich für intelligente Zwischennutzungen.
OK: In der Tat. Hier haben wir bereits viel Kompetenz erworben und gute Ergebnisse erzielt. Zwischennutzung beginnt beim Pop-up-Konzept für ein Wochenende inklusive Festival und reicht bis zu längeren Lösungen. Wir haben mit dem Pop-up-Konzept in einem Laden im Ruffinihaus erst im November 2023 begonnen.
Das läuft sensationell gut, schon jetzt ist 2024 komplett ausgebucht. Zudem hatten wir eine Reihe von neuen Initiativen im letzten Jahr, bei denen wir versuchen, Zwischennutzung in der Innenstadt, aber auch in Stadtteilzentren in Kooperation mit der privaten Immobilienwirtschaft zu initiieren, was kein Selbstläufer ist. Was aber neu ist und immer wichtiger werden wird: Wir arbeiten nun verstärkt an Instrumenten, um für die Szene langfristig leistbare Flächen zu organisieren.
OH: Eröffnet die Benko-Pleite neue Räume?
OK: Sicher. Wir sehen, dass viele monofunktional geplante und gebaute Großarchitekturen der Zweiten Moderne ihre Funktion verlieren. Bis für diese Gebäude Lösungen gefunden werden, können hier durchaus Zwischennutzungen erfolgen.
OH: Wie wichtig ist das New-European-Bauhaus-Pilotprojekt Creating NEBourhoods together in Neuperlach?
OK: Sehr wichtig. Wir hatten ja einen Anteil daran, dass das Projekt nach München kam. Dem Gesamtprojekt liegt die Idee zugrunde, bei der Revitalisierung des ehemals größten bundesdeutschen Stadterweiterungsgebiets Neuperlach nicht nur Wissenschaft, Wirtschaft und Verwaltung, sondern auch die Zivilgesellschaft einzubeziehen. Das historische Bauhaus hat sich immer auch um die Bewältigung sozialer Herausforderungen gekümmert und nicht allein um eine neue Designsprache. Wir sollten uns auf diese Tradition besinnen und die heutigen Herausforderungen, also Digitalisierung und grüne Transformation, in einer sozial inklusiven Gesellschaft insbesondere auch dadurch angehen, dass wir das Innovationspotenzial der Kultur- und Kreativwirtschaft aktivieren und mit reinnehmen.
OH: In Neuperlach gibt es Reallabore der Stadtentwicklung ...
OK: ... in denen die vier Stakeholder von Innovationsprozessen – Wirtschaft, Verwaltung, Wissenschaft und Zivilgesellschaft – zusammenkommen. Und zwar anhand von Methoden der Kooperation, die aus der Kulturund Kreativwirtschaft stammen. Zudem kuratieren wir einen Pool von 30 Kreativen, die ihre spezifische künstlerische oder gestalterische Perspektive einbringen, um eine gesteigerte kreative Flughöhe der Innovation zu erzeugen, die aber sozial inklusiv ist und deren Legitimität vor Ort auch durch die Zivilgesellschaft anerkannt wird, sodass diese Innovationen auch übernommen und mit nachhaltiger Wirkung implementiert werden.
OH: Wird die Kultur- und Kreativwirtschaft eigentlich auf Augenhöhe wahrgenommen?
OK: In der Kultur- und Kreativwirtschaft gibt es immer beides: viele kleinteilige Unternehmen und Freiberufler, aber auch große Unternehmen und Selbstständige sowie Unternehmen in der Nische und Stars. Oft wird in Politik und Öffentlichkeit die Bedeutung der kleinteiligen Unternehmen und Selbstständigen in der Nische nicht gesehen. Hier versuchen wir, deren Sichtbarkeit zu erhöhen sowie Verständnis für deren Arbeitsweisen und Bedeutung zu schaffen.